Gute Anführer hören zu: Demokratische Reiseentscheidungen bei Gorillas
Westliche Gorillas reisen in festen Gruppen. Um zusammenzubleiben, müssen sie koordinieren, wann und wohin sie gehen. Obwohl der Silberrücken das dominante und mächtigste Mitglied der Gruppe ist, haben Forschende der Universität Neuchâtel und des Muséum national d’Histoire Naturelle beobachtet, dass sich alle Individuen am Entscheidungsprozess zu beteiligen scheinen.
Makumba, ein Silberrücken aus einer der drei erforschten Gruppen beim Ausruhen. © Shelly Masi
„Auf geht’s!“ – Kooperation ist der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, Entscheidungen in der Gruppe zu treffen, zum Beispiel darüber, wohin und wann man reisen will. Die westlichen Gorillas müssen sich viel fortbewegen, um Nahrung zu finden, die im Wald verstreut ist. Jeder Einzelne in der Gruppe kann jedoch unterschiedliche Bedürfnisse und Kenntnisse haben. Wie koordinieren sie sich also, um sich gemeinsam fortzubewegen? Ein Team von Forschenden der Universität Neuchâtel und des Muséum national d’Histoire Naturelle untersuchte die Vokalisationen und das Verhalten von drei Gruppen westlicher Gorillas im tropischen Regenwald der Zentralafrikanischen Republik. Mit dem Ziel herauszufinden, wie die Affen entscheiden, wann sie ihre Ruhepause beenden und sich in Bewegung setzen. Ein erstaunlich demokratischer Prozess, trotz der dominanten Rolle des Silberrückens.
Innerhalb der Gemeinschaft der Gorillas
Westliche Gorillas leben in Familiengruppen, in denen nur ein erwachsenes Männchen – der Silberrücken – von Weibchen und deren Nachwuchs umgeben ist. „Sowohl die männlichen als auch die weiblichen Nachkommen verlassen die Gruppe, wenn sie ausgewachsen sind, aber die Männchen bleiben länger und verlassen die Gruppe erst, wenn sie zu Silberrücken werden. Nach etwas Zeit als Einzelgänger rekrutieren einige dieser Männchen dann Weibchen und bilden ihre eigene Gruppe“, erklärt Lara Nellissen, Erstautorin der Studie. Um zu überleben, muss diese Gorillaart ständig in Bewegung sein, um Nahrung zu finden oder um gefährlichen Kämpfen mit anderen Gorillas auszuweichen. Der Silberrücken ist doppelt so gross wie die Weibchen, und die Gruppe verlässt sich auf ihn für den Schutz vor nicht verwandten Silberrücken.
Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum westliche Gorillas, mehr als andere Menschenaffen wie Schimpansen oder Orang-Utans, es vorziehen, gemeinsam zu reisen und in der Nähe voneinander zu bleiben. „Für Gorillas ist es entscheidend, den Gruppenzusammenhalt zu bewahren“, sagt Nellissen. „Um sicher zu sein, dass alle einverstanden sind, haben wir beobachtet, dass Gorillas vor dem Aufbruch lautstarke Signale von sich geben.“ Und trotz seiner Bedeutung in der Gruppe ist der Silberrücken nicht der Einzige, der entscheidet!
Der Beginn einer Reise
Obwohl es möglich ist, Gruppenbewegungen ohne aktive Kommunikation zu koordinieren, kommunizieren die Individuen von sozialen Tierarten mit komplexen sozialen Interaktionen, wie zum Beispiel Gorillas, normalerweise, um Bewegungen der Gruppe zu koordinieren. Forschende der Universität Neuchâtel und des Muséum national d’Histoire Naturelle analysierten die Vokalisationen von drei Gruppen westlicher Gorillas, um herauszufinden, wie sie entscheiden, wann und wohin sie gehen.
Die Forschenden beobachteten, dass in den fünf Minuten vor der Abreise die Vokalisationsrate der Menschenaffen drastisch zunahm. Etwa die Hälfte der Grunzlaute war Teil des Austauschs mit anderen Gruppenmitgliedern. Je mehr Individuen an der Interaktion teilnahmen, desto wahrscheinlicher war es, dass sie aufbrachen. „Wir haben festgestellt, dass Gorillas umso eher aufbrechen, je mehr Gruppenmitglieder gegrunzt haben, was darauf hindeutet, dass Gorillas auf ein “Quorum” reagieren könnten“, erklärt Lara Nellissen. „Eine Quorum-Reaktion bedeutet, dass die Gruppe ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt, sobald sich eine bestimmte Anzahl von Individuen für dieses Verhalten ausgesprochen hat.“ Solche Quorum-Reaktionen wurden bereits bei Erdmännchen und Wildhunden beobachtet. Auf diese Weise können die Tiere, schnelle Entscheidungen treffen, ohne auf komplexe Kommunikation angewiesen zu sein.
Für die Forschenden steht dies im Widerspruch zu der Annahme, dass der Silberrücken das einzige Individuum ist, das über den Zeitpunkt des Aufbruchs entscheiden kann: Seine Zustimmung ist für den Aufbruch nicht einmal erforderlich. Obwohl es wahrscheinlicher ist, dass ranghöhere Individuen den Aufbruch initiieren und damit erfolgreich sind – und folglich auch die Richtung des Aufbruchs bestimmen – können alle Mitglieder die nächsten Schritte der Gruppe beeinflussen. Die Frage ist nun, was sie in diesen Interaktionen sagen. „Wir glauben tatsächlich, dass es einige Variationen in diesen Lauten gibt. Dies untersuchen wir nun weiter“, fügt Nellissen hinzu.
Auf den Spuren der Gorillas
Um die Daten für ihre Arbeit zu sammeln, hat Lara Nellissen in Zusammenarbeit mit dem WWF CAR 11 Monate lang drei Gorillagruppen im Regenwald des Dzanga-Sangha-Naturschtzgebiet in der Zentralafrikanischen Republik beobachtet. „Wir haben fokale Beobachtungen durchgeführt, das heisst, wir haben jeden Tag ein anderes Individuum den ganzen Tag über beobachtet“, erklärt die Wissenschaftlerin. Wenn sich die Gorillas gemeinsam ausruhten, zeichneten die Forschenden das Verhalten der Gruppenmitglieder und ihre Laute auf, insbesondere die, die mit dem Aufbruch zusammenhingen.
Ein weiterer wichtiger Faktor für Lara Nellissen was, dass sie die einzelnen Gorillas an ihrer Stimme erkennen konnte. Dafür konnte sie sich auf ihre Betreuerin Dr. Shelly Masi, die über 20 Jahre Erfahrung in der Erforschung dieser Gorillas hat, ihre Studentin Silvia Miglietta sowie auf die Aka-Tracker, Jäger und Sammler der Waldbevölkerung, verlassen. „Zu lernen, wer welche Stimme hat, war vor allem am Anfang schwierig, aber ich bekam Hilfe von den beeindruckenden Aka-Trackern. Sie brachten mir bei, wie ich die verschiedenen Individuen und ihre Laute erkennen kann, und nachdem ich den Gorillas ein paar Wochen lang gefolgt war, begann auch ich, die Unterschiede in ihren Stimmen zu bemerken“, erinnert sich Nellissen.
Die Aufnahmen der Vokalisationen können uns helfen, andere Aspekte ihres Lebens zu verstehen, bei denen sie kooperieren müssen. Früheren Forschungen von Silvia Miglietta zufolge arbeiten Gorillas auch bei der Nahrungsbeschaffung zusammen. „Wir glauben, dass sie nahrungsbezogene Rufe produzieren, um die anderen über das Vorhandensein von guter Qualität und reichlich Nahrung zu informieren und um den Gruppenzusammenhalt aufrechtzuerhalten“, erklärt die Forscherin.
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Über den NCCR Evolving Language
Der Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) Evolving Language ist ein nationales, interdisziplinäres Forschungskonsortium, das Forschende aus den Geistes-, Sprach- und Computerwissenschaften, den Sozial- und Naturwissenschaften auf einem noch nie dagewesenen Niveau zusammenbringt. Gemeinsam versuchen wir, eines der grössten Rätsel der Menschheit zu lösen: Was ist Sprache? Wie hat unsere Spezies die Fähigkeit entwickelt, sich sprachlich auszudrücken, Sprache im Gehirn zu verarbeiten und immer wieder neue Variationen an die nächste Generation weiterzugeben? Wie wird sich unsere Fähigkeit zur Sprache angesichts der digitalen Kommunikation und der Neurotechnik verändern?
Über das Muséum national d’Histoire Naturelle
Das Muséum national d’Histoire Naturelle ist eine bedeutende kulturelle und wissenschaftliche Einrichtung, die sich der Erforschung der Wunder der Natur widmet. Es wurde 1820 gegründet und beherbergt umfangreiche Sammlungen aus den Bereichen Zoologie, Mineralogie, Paläontologie und Botanik, die es zu einem wichtigen Zentrum für Forschung und Bildung machen. Das im Juni 1938 eröffnete Musée de l’Homme zeigt die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaften, wobei biologische, soziale und kulturelle Ansätze miteinander verknüpft werden.