Ein Fahrplan für das Geschlecht in der Sprache
Die Debatten rund um geschlechtsneutrale Sprache haben in den letzten Jahren oft die Schlagzeilen erreicht. Es geht nicht nur darum, wie wir die Menschen um uns herum angemessen ansprechen. Die Art und Weise, wie wir mit Geschlechtern in der Gesellschaft und in der Sprache umgehen, hat eine lange und komplexe Geschichte. Forschende des NFS Evolving Language und weiteren schweizer Institutionen haben ihr Fachwissen zu diesem Thema mit uns geteilt.
von Celia Lazzarotto. Übersetzung von Vanessa Pasci und Adrienne Ulrich.
Le genre et le langage sont inextricablement liés, de diverses manières. © Celia Lazzarotto
Im Jahr 1887 schrieb das Schweizer Bundesgericht, dass es falsch und unerhört wäre anzunehmen, dass der Ausdruck “Schweizer Bürger” Frauen im Gesetz einschliessen würde. Heutzutage wird argumentiert , dass das Wort “Bürger” als geschlechtsneutral betrachtet werden sollte und daher auch Frauen einschliesst. Andere wiederum bestehen darauf, dass das weibliche Geschlecht ebenfalls ausdrücklich festgehalten werden sollte, indem inklusive Schreibweisen wie “Bürger und Bürgerinnen” oder “Bürger:innen” verwendet werden.
Geschlecht und Sprache sind auf vielfältige Weise untrennbar miteinander verbunden. Zusammen mit Experten aus den Bereichen der Linguistik, Psychologie und Neurolinguistik haben wir versucht, diese Thematik zu entwirren. Woher kommt diese enge Verbindung zwischen Geschlecht und Sprache? Wie wirkt sie sich heute auf uns aus? Und vor allem, was können wir tun, um negative Auswirkungen zu vermeiden? Begleite uns auf einer Reise, um die Ursprünge, die Gegenwart und die Zukunft der Geschlechter in der Sprache zu entdecken.
Wegweiser für das Gehirn
In vielen Sprachen nimmt das Geschlecht einen möglicherweise unerwarteten Platz ein. Auch “grammatisches Geschlecht” genannt, kann es Substantive in feminin vs. maskulin vs. neutrum, aber in anderen Sprachen auch in lebendig vs. leblos, Orte vs. Dinge, Gemüse vs. Werkzeuge usw. unterteilen. Hier werden wir uns auf die Unterscheidung zwischen feminin und maskulin konzentrieren. Manchmal ist die Kategorie, der das Wort angehört, nicht willkürlich, insbesondere bei solchen, die Menschen bezeichnen. Hier spiegelt das grammatische Geschlecht (feminin und maskulin) oft das soziale Geschlecht (weiblich und männlich). Zum Beispiel auf Deutsch der Vater [masc.] und auf Französisch le père [masc.], sowie die Mutter [fem.] und la mère [fem.]. Einige Nomen werden jedoch völlig willkürlich in Geschlechtskategorien eingeteilt und haben keine Beziehung zum sozialen Geschlecht, wie zum Beispiel auf Deutsch “der Steg” maskulin ist und “die Brücke” feminin ist, aber auf Französisch ist la passerelle (der Steg) feminin und le pont (die Brücke) maskulin.
Balthasar Bickel, Professor für Linguistik an der Universität Zürich, stellt fest, dass das Vorhandensein von geschlechtsspezifischen Artikeln die Suchprozesse des Gehirns erleichtern kann. “Anstatt durch alle bekannten Begriffe zu suchen, erlauben es Artikel, den Raum zu sortieren und die Bedeutung eines bestimmten Wortes schneller zu finden“, sagt er. Dieses Sortiersystem erscheint unabhängig in Sprachen und kommt und geht mit der Zeit. In etwa der Hälfte der Sprachen sind Artikel in irgendeiner Form vorhanden. Davon verwendet die Hälfte Artikel, die mit Geschlechtern verknüpft sind (feminin, maskulin und manchmal neutrum). Warum das Geschlecht in so vielen Sprachen (ca. 25%) als Trennung gewählt wurde, ist bislang nicht vollständig ergründet. Es könnte eine Spiegelung der traditionellen Unterschiede und Gegensätze zwischen den sozialen Geschlechtern sein. Einige Sprachen wie das Türkische, dessen Kultur stark zwischen Frauen und Männern unterscheidet, haben jedoch keine Geschlechter in ihrer Grammatik. “Da es keine Datenbank gibt, die den Gebrauch des grammatischen Geschlechts und die kulturelle Bedeutung des sozialen Geschlechts in Gesellschaften im Laufe der Zeit vergleicht, ist es schwer zu untersuchen, ob Gesellschaften mit stärkeren Geschlechtsunterschieden eher dazu neigen, geschlechtsspezifische Artikel in ihrer Sprache zu entwickeln und beizubehalten“, berichtet Prof. Balthasar Bickel.
Patriarchat am Steuer
Für Alexis Hervais-Adelman, Professor für Neurolinguistik an der Universität Genf, ist “Geschlecht in der Sprache eine Manifestation der gesellschaftlichen Kultur.” Die lexikalische Unterscheidung der Geschlechter spiegelt wider, wie Menschen über Geschlechter denken und möchten, dass sie ausgedrückt werden. In einigen Sprachen ist die Art und Weise, wie wir sprechen, das Ergebnis jahrelanger Maskulinisierung, erzwungen durch patriarchale Ansichten. Im Französischen wurden im 17. Jahrhundert schwere Veränderungen durch die Académie Française vorgenommen – eine Gruppe von Intellektuellen, die für die Überwachung der französischen Sprache verantwortlich sind. Um Frauen davon abzuhalten, bestimmte Karrieren zu verfolgen und Machtpositionen zu erreichen, unterdrückten sie den Gebrauch existierender Wörter, wie Autorin (“une autrice”) oder Ärztin (“une médecine”). “Ab dem 16. Jahrhundert gab es eine progressive Auslöschung von Autorinnen – sowohl sprachlich als auch gesellschaftlich. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort “autrice” von der Académie Française verbannt. Zwei Jahrhunderte später, im 19. Jahrhundert, mit der obligatorischen Schulpflicht und dem Verschwinden von Autorinnen aus der öffentlichen Sichtbarkeit, verschwand der Begriff wirklich”, erklärt Pascal Gygax, Forscher in Psycholinguistik an der Universität Fribourg (CH). Die Regel “Maskulin gewinnt gegen Feminin” – was bedeutet, dass bei unbekanntem Geschlecht oder bei einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe immer auf das Maskulin zurückgegriffen werden sollte – stammt ebenfalls aus dieser Zeit.
Interessanterweise verbergen sich hinter vielen Ausdrücken und Wörtern, die wir heute noch verwenden, patriarchale Ansichten, ohne dass wir es bemerken. Der Ausdruck “wie ein Mädchen” hat oft einen abwertenden Unterton oder wird sogar als Beleidigung aufgefasst. Werfen wie ein Mädchen” kann eine minderwertige körperliche Leistung implizieren und wird oft verwendet, um jemanden zu motivieren, “es besser zu machen”. Häufig wird in Ausdrücken wie “Ehemann und Ehefrau” oder “Adam und Eva” die Bezeichnung für den Mann an erster Stelle gesetzt. “Er” wird somit als der wichtigere Teil des Ganzen betrachtet.
L'utilisation du masculin comme forme neutre d'un nom de métier tend à exclure les femmes. © Celia Lazzarotto
Eine diskriminierende Sackgasse
Die Wahrnehmung von Geschlechterrollen ist meistens von der Erziehung und dem individuellen Umfeld geprägt. Nach Ansicht von Entwicklungspsychologen, reagieren Kinder sehr sensibel auf ihre Umgebung und beginnen im Alter von 2 Jahren ihres Geschlechts bewusst zu werden. Die Sprache und das Verhalten, die in diesem Stadium Kindern gegenüber verwendet werden, haben höchstwahrscheinlich einen starken Einfluss auf ihre Persönlichkeit.
Sprachen, welche die männliche grammatische Form sowohl für spezifische (männliche) als auch generische (geschlechtsneutrale) Formen verwenden, wie das Deutsche oder Französische, können die Sichtweise von Kindern auf die Welt bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Laut Pascal Gygax neigen Kinder ab einem sehr frühen Alter dazu, das Maskulinum mit einem Mann oder einem Jungen zu assoziieren und nicht mit einem nicht spezifischen Geschlecht oder mit Gruppen, die auch aus Frauen oder Mädchen bestehen können. “Dies könnte wiederum ein Treibstoff für Ungleichheiten sein“, vermutet Pascal Gygax.
In einer Studie wurden 809 Primarschüler und Primarschülerinnen Berufbeschreibungen entweder in Paarweiser Beschreibung (z.B. “Möchtest du Ingeneur oder Ingeneurin werden?”) oder in der generischen männlichen Form (z.B. “Möchtest du Ingenieur werden?”). Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass einschließende Berufsbezeichnungen im Allgemeinen die mentale Erreichbarkeit von weiblichen Berufstätigen erhöhen, eine ausgewogenere Wahrnehmung des Erfolgs von Männern und Frauen fördern und das Interesse von Mädchen an stereotypischen Männerberufen stärken. Dieses Phänomen hat nicht nur Auswirkungen auf die Berufswahl von Kindern und Jugendlichen, sondern auch auf die Bewerbungen von Erwachsenen.
Tatsächlich neigt die Verwendung des Maskulinums als neutrale Form einer Berufsbezeichnung dazu, Frauen auszuschliessen. Dies manchmal auch in Sprachen, welche kein grammatikalisches Geschlecht verwenden, wie z. B. die Bezeichnungen “actor” und “policeman” im Englischen. Frauen fühlen sich von diesen Berufsbezeichnungen nicht angesprochen, weil sie dadurch hauptsächlich Männer in diesen Rollen sehen. “Es wurden Anstrengungen unternommen, um den ausschliesslichen Gebrauch von maskulinen Formen in Stellenangeboten zu vermeiden. Dies reicht jedoch nicht aus, da weit verbreitete Stereotypen ebenfalls beeinflussen, was Frauen und Männer als eine akzeptable und gewünschte Karriere betrachten“, erklärt Pascal Gygax. Zudem könnten sich dadurch die Chancen von Männern in Berufen verringern, die als eher weiblich gelten, z. B. als Pflegeberufe oder Kinderbetreuung.
“Ausserdem werden Männer und Frauen nicht gleich für ihre Arbeit beurteilt, wie wir in einer unserer Studien zeigen konnten“, sagt Pascal Gygax. Andere Aspekte werden ebenfalls beeinflusst, wie zum Beispiel die Zuschreibung und Anerkennung von Ideen. “In meinen Vorlesungen”, erzählt Prof. Balthasar Bickel, “ist es üblich, dass die Studierenden annehmen, dass der Autor eines Artikels männlich ist”. Frauen oder anderen Geschlechtern keine Anerkennung zu geben, wenn sie es verdienen, trägt zur Aufrechterhaltung von Stereotypen bei und gibt ihnen nicht die verdiente Sichtbarkeit.
Auf dem Weg zur Inklusivität!
Das Ziel des genderneutralen Schreibens – auch als inklusive Sprache bezeichnet – besteht darin, die Idee zu streichen, dass Männlichkeit die Norm ist. Eine Veränderung in der Sprache könnte die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, beeinflussen und zu mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern führen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Sprache geschlechtsneutral zu gestalten, wie von Pascal Gygax und Prof. Sandrine Zufferey beschrieben. Einige erfordern keine “Innovation”, das heisst, sie erfinden keine neuen Wörter oder Grammatikregeln, während andere genau dies tun. Um über eine neutrale dritte Person zu sprechen, kann man in der englischen Sprache zum Beispiel das bereits vorhandene Pronomen “they” verwenden, während man im Französischen erfundene Pronomen wie “iel” verwendet.
Ist es ein Problem, dass Wörter erfunden werden, um inklusive Sprache zu ermöglichen? Laut den Experten nicht! “Die Leute haben das Gefühl, dass Sprache stabil ist, aber das ist sie nicht!“, betont Pascal Gygax. Eine Meinung, die von Prof. Balthasar Bickel geteilt wird. Sprache soll lebende Menschen bedienen, daher ist es normal, dass sie sich weiterentwickelt, um sie besser zu repräsentieren. “Neue Wörter werden ständig zum Wortschatz einer Sprache hinzugefügt und das Gehirn hat kein Problem damit, sich daran anzupassen“, fügt Prof. Balthasar Bickel hinzu. Er führt als Beispiel Markennamen auf. Das sind künstlich eingeführte Wörter, werden aber schnell übernommen. “Wenn die Leute das Gefühl haben, dass ein Wort benötigt wird, wird es verwendet und verbreitet“, sagt er.
Es scheint jedoch, dass diese neue Art von Sprache mehr Komplexität in unsere Kommunikation bringt. Aber das ist, laut unserem Experten für Linguistik Balthasar Bickel, nichts, was die Natur nicht bereits von selbst tun würde. Die Komplexität von Sprachen variiert im Laufe der Zeit und schwankt zwischen Veränderungen, welche die Sprache erweitern, und Veränderungen, welche sie verkürzen. “Dieses Phänomen ist in der Sprachevolution äusserst gut etabliert und keine dieser Veränderungen macht Sprachen effizienter oder leichter zu erlernen“, sagt Prof. Balthasar Bickel. “Es schadet nicht, längere Ausdrücke zu verwenden, um etwas zu sagen, genauso wenig wie es falsch ist, kürzere zu verwenden“. Darüber hinaus scheinen Studien zu zeigen (1, 2), dass genderneutrale Pronomen nicht schwieriger zu verarbeiten und zu verstehen sind. Daten darüber, wie Kinder, Menschen mit Dyslexie oder anderen sprachbezogenen Beeinträchtigungen, sowie Personen aus verschiedenen sozialen Hintergründen diese Begriffe verarbeiten, wären jedoch hilfreich, um ein repräsentativeres Bild zu erhalten.
Alles in allem scheint inklusive Sprache ein grossartiges Werkzeug zu sein, aber kann sie tatsächlich die Geschlechtergleichheit in der Gesellschaft verbessern? Das gechlechtsneutrale Schwedische Pronomen “hen” kam in den 1960er Jahren auf und wurde 2015 in das Schwedische Wörterbuch aufgenommen. Dieser Fall ist für Forscher interessant, um die Auswirkungen von geschlechtsneutraler Sprache zu analysieren. Laut Prof. Alexis Hervais-Adelman ist “die Einführung des Wortes nicht nutzlos, da Studien zeigen, dass die Verwendung des geschlechtsneutralen Pronomens “hen” dazu neigt, männliche Vorurteile zu reduzieren, während dies bei den gekoppelten Formen er/sie nicht der Fall ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Stereotypen aufhören zu existieren, sondern nur, dass innovative neutrale Pronomen sie möglicherweise nicht so stark hervorrufen”. Er fragt sich, ob neuartige Formen in Deutsch und Französisch die gleiche Effizienz wie “hen” in Bezug auf die Reduktion von Stereotypen haben könnten.
Das Problem liegt in der Regel nicht nur in den Wörtern, sondern auch in der Bedeutung dahinter, denkt Prof. Balthasar Bickel, unterstützt von Pascal Gygax. “Es wird angenommen, dass es Konsequenzen haben wird, wenn wir die Sprache ändern, aber wir haben keine konkreten Beweise dafür”, sagt Prof. Alexis Hervais-Adelman. “Obwohl das Beispiel “hen” darauf hindeutet, dass durch die Verwendung eines innovativen neutralen Pronomens Vorurteile reduziert werden können, haben wir noch keine langfristigen Konsequenzen beobachtet”, merkt er an. Das bedeutet, dass eine Veränderung der Sprache die Kultur nicht sofort verändern wird; es gibt viele historische Einbettungen, die Zeit brauchen, um sich aufzulösen. “Wir müssen warten, bevor wir unsere Schlussfolgerungen ziehen; es könnte der Fall sein, dass sich Sprache und Gesellschaft langsam verändern”, schliesst Pascal Gygax. “Es hat 3 Jahrhunderte gedauert, bis das französische Wort ‘autrice’ vollständig verschwunden ist, also könnte es eine Weile dauern, bis es wieder auftaucht”.
Medien Kontakten
Prof. Balthasar Bickel – Departement of Comparative Language Science, University of Zürich and Director of the NCCR Evolving Language.
Tel. +41 44 63 40220
Prof. Alexis Hervais-Adelman – Departement of Basic Neurosciences, University of Geneva.
Pascal Gygax – Department of Psychology, University of Freiburg
Tel. +41 26 300 76 40