Gehirne aus Silikon
Valentina Borghesani erforscht, wie in unserem Hirn Bedeutung entsteht. Dazu arbeitet sie mit Aphasie-Patient:innen, aber immer mehr auch mit KI-Sprachmodellen, mit denen sich Vorgänge im Hirn simulieren lassen.
von Roger Nickl.
© Celia Lazzarotto
Zitrone, sauer, Saftpresse: Welche zwei dieser drei Worte gehören für Sie näher zusammen? Und wie sieht es bei «Gitarre, Bass, Violine», bei «Tiger, Löwe, Schildkröte» oder bei «Pizza, Ananas, Peperoni» aus? Valentina Borghesani hat in einer Studie Proband:innen unzählige solcher Worttripletten, die unterschiedlich konkret oder abstrakt waren, vorgelegt. Die Testpersonen sollten die beiden enger miteinander verknüpften Begriffe benennen. Dieselbe Aufgabe stellte die Neuro- und Kognitionswissenschaftlerin auch verschiedenen, mit KI begabten Sprachmodellen.
Aus den Resultaten dieser Studie hat die Forscherin gemeinsam mit Kolleg:innen des CNeuromod-Teams der Universität Montreal nun einen frei verfügbaren Datensatz für Forschende entwickelt, mit dem sich das semantische Wissen von Menschen und Maschinen testen und vergleichen lassen. «Ich denke, mit unserem Datensatz lässt sich gut überprüfen, wie nahe man mit KI an die semantische Repräsentation im menschlichen Hirn herankommt», sagt die Wissenschaftlerin, die am Neurocenter der Universität Genf und am NCCR Evolving Language forscht, «die Idee ist nun, dass Forschende die Leistungen ihrer Sprachmodelle damit überprüfen können.»
Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren
Valentina Borghesani interessiert sich für Sprache und Denken. Sie erforscht, wie in unserem Hirn semantische Inhalte, unser Wissen, entsteht, gespeichert wird und bei neurodegenerativen Krankheiten wieder verloren geht. Und sie untersucht, welche Hirnregionen bei diesen Prozessen beteiligt sind. Sprache spielt dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Denn mittels Sprache können wir zwar mentale Konzepte, also Vorstellungen von der Welt, erst kommunizieren und sie ist meist auch das Medium, mit dem wir solche Konzepte lernen. Doch: Sprache und Denken sind lange nicht immer deckungsgleich. «Es gibt Konzepte, für die wir keine Label, keine Worte haben», sagt Borghesani, «und es gibt das umgekehrte, Worte, die wir anfänglich mit keinem Konzept verknüpfen können – beispielsweise wenn wir eine neue Sprache lernen.» Menschliche Intelligenz sei letztlich viel mehr als nur Sprache, sagt die Forscherin.
Um zu neuen Erkenntnissen über die neurobiologischen Grundlagen von Sprache und Denken und das Entstehen von semantischem Wissen zu gelangen, arbeitet Valentina Borghesani mit Aphasie-Patient:innen, aber auch immer mehr mit KI betriebenen Sprachmodellen. Für Betroffene, die an einer bestimmten Form von Aphasie – der semantischen Variante der primär progressiven Aphasie (svPPA) – leiden, verlieren Wörter zunehmend ihre Bedeutung, zudem haben sie Mühe Objekte und Gesichter zu erkennen. «Mit Hilfe solcher neurodegenerativen Erkrankungen lässt sich untersuchen, wie sich Beeinträchtigungen in spezifischen Hirnarealen auf bestimmte sprachliche und semantische Funktionen auswirken», sagt die Forscherin.
Dadurch erhofft sie sich, zu neuen Einsichten darüber zu gelangen, wie und wo unser Hirn Bedeutung herstellt und welche Rolle Sprache dabei spielt. Aber nicht nur das: «Je mehr wir über diese Zusammenhänge wissen, desto mehr können wir für die Patient:innen, die an dieser Form der Aphasie leiden, tun», sagt Borghesani. So könnten mit Hilfe des neuen Wissens aus Borghesanis Labor künftig effektivere Rehabilitationstherapien, aber auch Diagnoseverfahren entwickelt werden, mit denen eine beginnende Aphasie bereits in einem frühen Stadium festgestellt werden kann.
Virtuelle Läsionen
In der Forschung von Valentina Borghesani ist die Arbeit mit Aphasie-Patientinnen wichtig, zunehmend an Bedeutung gewinnt aber auch die Verwendung von KI. «Die KI-Modelle sind mittlerweile so gut, dass wir sie fast schon wie In-silico-Gehirne für unsere Forschung nutzen können, um damit Experimente zu machen», sagt die Kognitionswissenschaftlerin, «sie können uns helfen, mehr über unser eigenes Hirn zu lernen». Indem die Forscher:innen am Genfer Neurocenter die KI mit unterschiedlichen Daten trainieren oder ein Modell bewusst beschädigen, indem man ihm quasi wie bei einer Aphasie virtuelle Läsionen zufügt, können sie damit Voraussagen über spezifische Aktivitäten (oder ihr Ausbleiben) im menschlichen Hirn machen und überprüfen.
So lässt sich damit etwa die Dissoziation von Syntax und Semantik untersuchen und feststellen, welche Bereiche in unserem Hirn dabei involviert sind, wie dies vor kurzem in einer Studie gemacht wurde. «Die Arbeit mit KI-Modellen ist auf unserem Forschungsgebiet relativ neu und wir müssen noch mehr darüber wissen, wie diese Modelle funktionieren», sagt Valentina Borghesani, «doch wir kommen allmählich an den Punkt, wo wir sie gewinnbringend für virtuelle Tests für unsere Theorien über das menschliche Gehirn verwenden können.»
Menschliche Konversation simulieren
Der Wissensfluss geht aber auch in die andere Richtung: So kann die Forschung von Neurowissenschaftler:innen wie Valentina Borghesani dazu beitragen, KI-Modelle zu verbessern – gerade, wenn es um Fragen der Semantik geht. Denn in dieser Hinsicht haben bestehende Sprachmodelle noch grosse Lücken. Chat GPT kann beispielsweise in Windeseile kohärente Texte verfassen, Zusammenfassungen schreiben oder Texte von einer Sprache in eine fast beliebig andere übersetzen. «Darin ist das System wirklich hervorragend», sagt Borghesani, «es ahmt menschliche Konversationen nach, es simuliert menschliches Verhalten und Intelligenz.» Doch das maschinelle Sprachvermögen beschränkt sich vor allem auf geschriebene Texte. Und es produziert Sprache, ohne deren Inhalt wirklich zu verstehen.
«Das menschliche Sprachsystem ist dagegen multimodal», sagt Borghesani. Es besteht aus gesprochener und geschriebener Sprache. Und es beruht auf körperlichen – sinnlichen, akustischen, visuellen und taktilen – Erfahrungen und auf Weltwissen. Beides fehlt den KI-Modellen. Deshalb haben sie zum Beispiel Mühe damit, Metaphern zu verstehen oder Ähnlichkeiten zu sehen, die einem Menschen sofort auffallen. «Je mehr wir darüber wissen, wie die menschliche Sprache und die menschliche Intelligenz funktionieren, desto besser können wir KI-Expert:innen sagen, in welche Richtung sie Sprachmodelle weiterentwickeln sollten, um deren Leistungen zu verbessern», sagt die Forscherin.
Mit ihrer Arbeit möchte Valentina Borghesani dazu beitragen, die semantische Repräsentation, das sprachliche Verständnis von KI-Modellen zu verbessern. Gleichzeitig hat sie aber auch einen Einwand: «Wenn wir darüber sprechen, wie wir diese Modelle optimieren können, sollten wir uns auch immer die Frage stellen, weshalb wir dies überhaupt tun wollen», sagt Valentina Borghesani. Wenn es darum gehe, die Arbeit mit Texten zu erleichtern oder virtuelle Assistenten zu kreieren, die uns das Leben etwa bei der Literaturrecherche oder mit Textübersetzungen erleichtern, spreche nichts dagegen, KI-Modelle weiterzuentwickeln. «Sollte das langfristige Ziel allerdings sein, eine generelle Künstliche Intelligenz zu schaffen, bin ich nicht wirklich sicher, ob ich das möchte und ob uns die verbesserte Sprachverarbeitung überhaupt dorthin führen würde», sagt Valentina Borghesani. Interessiert ist Neurowissenschaftlerin zurzeit vor allem an leistungsfähigeren Modellen, die ihr helfen unser Hirn, unsere Intelligenz und unsere Sprachfähigkeit besser zu verstehen.